Die Geschichte vom Fräulein Pollinger

Inszenierung Fabian Alder
Bühnenbild & Kostüme 
Armella Müller von Blon Musiker Roman Britschgi & Oliver Roth

Raphaela Möst Agnes Pollinger Matthias Franz Stein Eugen Reithofer/Herr Kastner/AML/Harry Priegler

 

 

Das Josefstadt-Jungtalent Raphaela Möst, die bereits an der Seite von Helmuth Lohner, Andrea Jonasson und Maria Köstlinger überzeugte, ist nun erstmals in einer Hauptrolle zu sehen, in der Titelrolle der jungen Näherin Agnes Pollinger.

Den arbeitslosen Kellner Eugen und alle weiteren Männer, denen Agnes begegnet,  spielt Matthias Franz Stein, der derzeit auch in „Die Schüsse von Sarajevo“ gemeinsam mit seinem Vater Erwin Steinhauer in der Josefstadt zu sehen ist.

Sein Regiedebüt an der Josefstadt gibt der Schweizer Fabian Alderu.a. Regieassistent in Zürich bei Christoph Marthaler und in Essen bei Anselm Weber.

 

 

Ödön von Horváth zählt zu den bedeutendsten Dramatikern des 20. Jahrhunderts und zeichnet sich durch seine scharfsinnige Gesellschaftskritik sowie seinen prägnanten Stil aus. In seinem Stück „36 Stunden, die Geschichte vom Fräulein Pollinger“ thematisiert er die Lebensrealitäten einer Frau in der Weimarer Republik, die zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichen Wünschen hin- und hergerissen ist. Der folgende Beitrag beleuchtet die zentralen Aspekte des Stückes und seine Relevanz für das Theater heute.

36 Stunden“ erzählt die Geschichte von Hedwig Pollinger, einer jungen Frau, die in einer scheinbar endlosen Zeitspanne von 36 Stunden mit einem unerwarteten Schicksal konfrontiert wird. Nach einer verhängnisvollen, nächtlichen Begegnung steht sie vor der Entscheidung, ihr Leben neu zu orientieren oder den gewohnten Pfad weiterzugehen.

Das Stück entfaltet sich in einer Mischung aus dramatischen Wendungen und tragikomischen Elementen, die die Absurditäten des Lebens verdeutlichen. Horváth schafft es dabei, die innere Zerrissenheit der Protagonistin authentisch darzustellen, was nicht nur ihre persönliche Krise widerspiegelt, sondern auch allgemeinere soziale Fragestellungen aufwirft.

Besonders bemerkenswert ist Horváths Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit. Das Stück nimmt eine klare Position ein, indem es die strengen Rollenbilder und Erwartungen an Frauen untersucht. Hedwig Pollinger verkörpert die junge Frau, die im Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Anpassung agiert. Ihre Ambivalenz wird zum Symbol für die Herausforderungen, die Frauen in der Weimarer Republik bewältigen mussten.

Horváth zeigt, wie die Gesellschaft Frauen dazu zwingt, sich bestimmten Normen zu unterwerfen. Hedwig versucht, ihre Identität in einer von Männern dominierten Welt zu finden, während sie gleichzeitig gegen die Erwartung kämpft, sich dem traditionellen Bild einer Ehefrau und Mutter anzupassen. Diese Problematik ist zeitlos und spiegelt auch heutige Debatten über Genderrollen und Feminismus wider.

Die Art und Weise, wie Hedwigs innere Konflikte dargestellt werden, regt das Publikum zur Reflexion über die eigenen Lebensentscheidungen und deren gesellschaftliche Implikationen an.

Die dramaturgische Struktur des Stückes ist ebenfalls von großer Bedeutung. Horváth nutzt die Form des zeitlich komprimierten Geschehens, um die Intensität der emotionalen Auseinandersetzung zu steigern. Durch die Konzentration auf einen kurzen Zeitraum wird das Gefühl von Dringlichkeit und Unausweichlichkeit erzeugt, das die Zuschauer in den Bann zieht. Die Dialoge sind oft von Ironie und schwarzem Humor geprägt, wodurch die Tragik der Situation auf eine zugängliche Weise vermittelt wird.

Die Verwendung von Rückblenden und inneren Monologen ermöglicht es dem Publikum, die komplexe Psyche der Protagonistin besser zu verstehen. Diese Technik trägt dazu bei, dass der emotionale Druck, dem Hedwig ausgesetzt ist, sowohl nachvollziehbar als auch greifbar wird. Die Szenen wechseln schnell und rhythmisch, was die Hektik ihres Lebens widerspiegelt. Solche stilistischen Mittel machen das Stück zu einem eindringlichen Erlebnis, das die Zuschauenden sowohl emotional berührt als auch zum kritischen Denken anregt.

Trotz der zeitlichen Distanz bleibt „36 Stunden“ ein relevantes Werk, das tiefgehende Fragen zu Identität, Freiheit und den Zwängen der Gesellschaft aufwirft. In einer Zeit, in der viele Menschen ähnliche Herausforderungen erleben, bietet das Stück Anlass zur Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensumständen und der Rolle, die man in der Gesellschaft spielt.

Das Stück kann auch als Vorbote moderner Dramatik verstanden werden, da es sich gegen die Strömungen des übermäßigen Realismus wendet und stattdessen ein differenziertes, psychologisch fundiertes Portrait seiner Figuren entwirft. Es fordert die Theatermacher von heute heraus, das Erbe von Horváth weiterzutragen und in eine zeitgenössische Bühnenpraxis zu integrieren.

Ödön von Horváths „36 Stunden, die Geschichte vom Fräulein Pollinger“ ist ein kraftvolles, vielschichtiges Werk, das zeitlose Themen behandelt. Die Auseinandersetzung mit der Identität und dem Platz des Individuums in einem restriktiven Gesellschaftsgefüge bleibt von bleibender Aktualität. Dieses Stück bietet nicht nur einen tiefen Einblick in die Lebensrealität der Weimarer Republik, sondern lädt auch die moderne Gesellschaft ein, über Geschlechterrollen, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Erwartungen nachzudenken.

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