Nach der Oper. Der Würgeengel

Inszenierung Martin Wuttke

Adina Vetter Agnes Palmisano Andrea Clausen Anna Starzinger Bibiana Zeller Branko Samarovski Catrin Striebeck Dirk Nocker Duccio Dal Monte Franz J. Csencsits Gerrit JansenIgnaz Kirchner Lucas Gregorowicz Luis Bunuel Maria Happel Peter Matic Peter Miklusz Stefan Wieland Stefanie Dvorak Yohanna Schwertfeger

 

 

 

Luis Buñuels Film „Der Würgeengel“ (1962) stellt eine zentrale Stellung in der Diskussion über den surrealistischen Film und die Theaterwissenschaft ein. Seine komplexe Erzählstruktur, der subtile Einsatz von Symbolik sowie die eindringliche thematische Auseinandersetzung mit sozialen Normen und menschlichen Instinkten laden zu einer tiefgehenden Analyse ein. In diesem Text soll der Film im Kontext der Theaterwissenschaft betrachtet werden, wobei insbesondere die Elemente von Raum und Zeit, die Charakterdynamik und die allegorische Dimension des Geschehens herausgearbeitet werden.

Die Erzählung von „Der Würgeengel“ entfaltet sich in einem missionarischen Ambiente, das an eine aristokratische Gesellschaft erinnert. Zu Beginn des Films versammeln sich die Protagonisten, eine Gruppe von wohlhabenden Bürgern, nach einer Opernaufführung in einem luxuriösen Haus. Diese Ausgangssituation lässt sich als eine Art Bühne interpretieren, auf der die sozialen Rollen und Machtverhältnisse der Figuren inszeniert werden. Hierbei fungiert der Raum nicht nur als physischer Ort, sondern auch als symbolische Repräsentation der gesellschaftlichen Ordnung.

Im Verlauf des Films wird der Raum jedoch zum Gefängnis. Die Gäste sind unfähig, das Haus zu verlassen, was eine existenzielle Krise auslöst. Diese Metamorphose vom sich entfalten nach dem kulturellen Erlebnis zur Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit spiegelt das Theater wider, in dem der Zuschauer oft mit der Auflösung konventioneller Strukturen konfrontiert wird. Auch im Theater erreichen oft nur bestimmte Charaktere einen Punkt, an dem ihre sozialen Masken abfallen. Buñuel nutzt diese Dynamik, um den Zerfall der bürgerlichen Zivilisation zu illustrieren.

Ein weiteres bedeutendes Element in Buñuels Werk ist die Verschiebung der Zeitdimension. Während der Film zunächst einem linearen Zeitablauf folgt, beginnt die Zeit im geschlossenen Raum zu stagnieren. Dies führt zu einem surrealistischen Effekt, der an den experimentellen Charakter des Theaters erinnert. In der Theaterwissenschaft wird Zeit häufig als Strukturmittel analysiert, das das Verhalten der Charaktere beeinflusst und deren Entwicklung darstellt.

In „Der Würgeengel“ wird die Zeit jedoch nicht wie im klassischen Theater genutzt, um Fortschritt oder Veränderung darzustellen; vielmehr wird sie zum Katalysator für Regression.

Die Protagonisten, die zu Beginn in einer Welt der Zivilisation und des Anstands leben, beginnen schnell, ihre menschlichen Instinkte zu offenbaren. Assoziationen zu animalischen Verhaltensweisen werden sichtbar, wenn die Charaktere sich nicht nur emotional, sondern auch physisch zurückziehen. Diese Transformation spiegelt das Konzept des Abfalls von zivilisatorischen Werten wider, was in zahlreichen Theaterstücken als zentraler Konflikt beobachtet werden kann.

Die Charaktere in „Der Würgeengel“ sind vielschichtig und oft miteinander verflochten, was die dynamischen Beziehungen innerhalb der Gruppe unterstreicht. Buñuel nutzt die Gruppendynamik, um soziale Hierarchien und Machtstrukturen zu beleuchten. Im geschlossenen Raum treten diese Strukturen zunehmend zutage: Der Status einzelner Charaktere wird irrelevant, da die Notwendigkeit des Überlebens an erster Stelle steht.

Diese Rückkehr zu archaischen Konflikten in einer Gesellschaft, die sich ihrer sozialen Unterschiede bewusst ist, erinnert an viele klassische Theaterstücke, in denen Machtverhältnisse, Erosion von Autorität und psychologische Kämpfe oft in einem abgeschotteten Raum stattfinden. Die ständige Ungewissheit über die Gründe des Feststeckens verstärkt die Paranoia unter den Charakteren und führt zu Spannungen, die an die dramatischen Höhepunkte in Tragödien erinnern.

Schließlich ist die allegorische Dimension von „Der Würgeengel“ von zentraler Bedeutung für das Verständnis der zentralen Botschaften des Films. Buñuels Werk ist eine scharfsinnige Kritik an der Bourgeoisie und deren eingebildetem Gefühl von Überlegenheit. Die Entblößung der menschlichen Natur in Krisensituationen ist eine wiederkehrende Thematik sowohl im Theater als auch in der Literatur. Hier wird der Mensch nicht nur mit seinen Schwächen, sondern auch mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert.

Die Entscheidung Buñuels, einen geschlossenen Raum als Mikrokosmos gesellschaftlicher Zustände darzustellen, entspricht der traditionell dramatischen Technik, die darin besteht, das Individuum im Angesicht einer übergreifenden Katastrophe zu zeigen. In „Der Würgeengel“ wird der Zuschauer Zeuge eines Experiments, das die Fragilität menschlicher Werte untersucht und letztendlich zur Frage nach der Wahrhaftigkeit menschlichen Handelns führt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Luis Buñuels „Der Würgeengel“ nicht nur ein Meisterwerk des surrealistischen Kinos ist, sondern auch ein eindringliches Beispiel für die intermedialen Verbindungen zwischen Film und Theater. Die Elemente der Inszenierung, der Charakterdynamik und der zeitlichen Struktur spiegeln die Herausforderungen und Abgründe menschlicher Natur wider. In der universellen Botschaft, die das Werk vermittelt, finden sich fundamentale Fragen zu Identität, Macht und Moral, die auch für die Theaterwissenschaft von großer Relevanz sind.

 

 

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